Bach-Magazin

“ES GIBT REGELN”

in: Bach-Magazin

Interview: Christiane Schwerdtfeger

Herr Spering, wo steht die historisch informierte Aufführungspraxis heute?
Es ist doch eigentlich so: Seit Nikolaus Harnoncourt hat sich nicht mehr großartig etwas bewegt. Es macht sich kaum noch jemand Gedanken und forscht eigenständig, sondern meist hört der eine beim anderen ab. Mittlerweile gibt es durchaus verschiedene Schulen: Die französische etwa ist weich und sanglich, die englische mehr dramatisch und immer nobel, und es entwickelt jeder etwas, das musikalisch auch seiner Nation entspricht. Aber ich wünschte mir, dass alle viel genauer auf Bach schauen würden.

Inwiefern?
Es gibt einfache Regeln wie Appogiaturen und Dissonanzbehandlung, die auch über die Noten hinaus richtig sein müssen; das gerade sollte Aufführungspraxis im Gegensatz zur bloßen Interpretation ausmachen. Leider werden vielfach Begrifflichkeiten durcheinandergebracht und dann natürlich falsche Schlüsse für die Ausführung gezogen. Kaum jemand macht zum Beispiel noch einen Unterschied zwischen einer männlichen und einer weiblichen Endung. Oder nehmen Sie das Missverständnis um die Rhetorik. Fast jeder spricht davon, dabei ist jede musikalische Phrase zuerst einmal der Sprache nahekommend und damit rhetorisch. Auch das Verhältnis von allgemeiner Rhetorik und Figurenlehre bedarf doch der Präzisierung: Da ist die Dispositio das große Gebäude; die Struktur eines Werkes der Architektur- oder Bauplan. Die Figurenlehre jedoch ist nur ein Konstrukt, das Ausnahmen von der traditionellen Kontrapunktlehre sozusagen legalisiert, eine – salopp gesagt – schöne Spielerei, im Musik gebäude nur die Decoratio, also sozusagen die Tapete, die von Italien herkam und sich letztlich nur in Mitteldeutschland wirklich ausgebreitet hat. Bach hat sie zur Blüte geführt. Seine Söhne zum Beispiel hat das überhaupt nicht mehr interessiert.

Warum ist diese Unterscheidung so wichtig?
Es wird sicher niemand bestreiten, dass Johann Sebastian Bach seiner Musik einen Architekturplan im Sinne einer Dispositio zugrunde gelegt hat – gerade bei einem Werk, das er mehrfach bearbeitet hat. Steht der Bauplan, ist das Werk gegliedert, kann es dann zum Beispiel durch Figuren ausgeschmückt werden. Aber die Disposition, die Anordnung der Redeteile und ihre Funktion im Werk ist zuerst das Entscheidende.

Nennen Sie uns Beispiele?
Seine Matthäus-Passion hat Bach natürlich nicht einfach drauf los geschrieben, sondern dem Werk liegt ein Bauplan zugrunde. Also muss doch etwas mehr dahinterstecken, wenn es einige Arien ohne vorangehendes Arioso gibt, während die anderen alle ein Arioso haben. So etwas hat ganz gewiss einen dramaturgischen Sinn, und entsprechend sind die Arien auf der Interpretationsebene zu behandeln: die mit Arioso davor sind betrachtend, die anderen in den dramatischen Ablauf eingebunden. Wenn dann aber ohne Rücksicht auf diesen Zusammenhang einfach irgendwelche individuellen Tempi veranschlagt werden, die sich möglichst noch nach dem Können oder Geschmack der Interpreten richten, ist das oft nicht stimmig. Für mich ergibt sich der Sinn nur, wenn die Musik in einem Kontext erschlossen wird, und zwar in dem, in den Bach sie gestellt hat.
Oder nehmen Sie die Kantate „Ich habe genug“. Vom Architekturplan aus gesehen müsste sie im Prinzip heißen: „‚Ich habe genug‘, also ‚Schlummert ein ihr matten Augen‘, denn ‚Ich freue mich auf meinen Tod‘“. Das sind nämlich die drei Arien der Kantate, die durch je ein Rezitativ miteinander verbunden sind. Die kausalen Zusammenhänge zwischen diesen Arien wird so keiner leugnen. Und ich gehe so weit zu sagen, dass sie auch metrisch aufeinander Bezug nehmen müssen. Steht die Arie „Schlummert ein …“ jedoch in einem anderen Kontext wie etwa in der Fassung im Notenbüchlein, kann das ein ganz anderes Tempo sein; zumindest kann sich eine Interpretation in der durchstrukturierten reifen Kantate nicht von einem einzelnen Wort wie „schlummert“ leiten lassen und ein langsames schläfriges Tempo fordern oder gar ein Schlaflied aus dieser zentralen Arie machen, die schon alle barocke Todessehnsucht in sich trägt.

Das heißt, der Werkplan steht ganz vorn, und erst danach rücken solche interpretatorischen Aspekte wie Spieltechniken, Instrumentarium, Ausdruck in den Blick?
Ja und nein. Natürlich steht der Werkplan vorn. Aber was Spieltechnik und barockes Regelgut betrifft, ist es Grundvoraussetzung, dass alle Interpreten sie beherrschen. Mir geht es um die Intention des Komponisten. Auf diese Frage kann man nämlich alles reduzieren: Intention des Komponisten oder vollkommen subjektiv? Und man müsste dann feststellen, dass die Aufführungspraxis heute mehr und mehr in eine subjektive Richtung abdriftet.

Welche Rolle spielt für Sie das Quellenstudium?
Ich habe sehr viel gelesen und Gott sei Dank sind ja die wesentlichen und relevanten Quellen zur Bach’schen Musik in deutscher Sprache verfasst. Aber das macht es nicht immer einfacher, denn je mehr man liest, umso verwirrter wird man auch. Der Bach-Forscher Andreas Glöckner hat einmal so
schön gesagt, es gab eben keine Industrienorm zur Zeit Bachs. Das heißt zum Beispiel: Es kann durchaus sein, dass Kantaten auch hin und wieder in einfacher Besetzung aufgeführt worden sind. Angesichts des Repräsentationsbedürfnisses eines Menschen und natürlich des „Höchstnöthigen Entwurfs“, können wir jedoch davon ausgehen, dass Bach, wenn möglich, mehrfach besetzt hat. Natürlich gibt es hier noch viele ungelöste Fragen und das große Rätsel, weshalb wir so wenige Aufführungsmaterialien haben, die auf eine mehrfache Besetzung hinweisen. Aber der „Höchstnöthige Entwurff“, den Bach für Leipzig gemacht hat, ist die Grundlage, mit der ich arbeite. Unter die dort von Bach genannten Besetzungsgrößen zu gehen und zu sagen, das ist zu viel, die Aufführungen waren
generell einfach besetzt – das halte ich wirklich für ein Fehlurteil.

Jüngst haben Sie die Solo-Basskantaten ein gespielt. Kommt zukünftig noch mehr Bach von Ihnen?
Ja, auf jeden Fall. Für mich heißt es jetzt „ad fontes“, und Bach ist die Quelle für fast jeden Musiker. Da komme ich her, ich mache das einfach gern. Als nächstes CD Projekt stehen Bachs Dialogkantaten für Sopran und Bass als CD-Einspielung auf meinem Programm.

Sie haben sich in den letzten Jahren viel mit romantischem Repertoire befasst. Weshalb nun wieder das Interesse für Barockmusik?
Ich würde sagen: das Interesse betrifft eher Bach als Barock, denn wie gesagt ist er eigentlich für alle Musiker die Grundlage. Auch in den letzten Jahren habe ich Bach viel aufgeführt, nur selten eingespielt und beispielsweise tatsächlich als Erster, aber unbemerkt, alle Passionen in allen Fassungen musiziert und zusätzlich natürlich auch die Mendelssohn’sche Matthäus-Passion. So bin ich am Ende in diese Rezeptionsschublade geraten – was mich sehr freut. Gerade haben wir Wagner eingespielt, nämlich seine Bearbeitung von Glucks „Iphigenia in Aulis“.

Was ist für Sie reizvoller: verschiedene Versionen eines Werks auszuleuchten oder bekanntes Repertoire neu vorzustellen?
Die Versionen bieten einen unheimlich interessanten Einblick in die Werkstatt eines Komponisten. Als würden Sie ihm über die Schulter schauen. Dass ich mir Mendelssohns Blick auf Bach angeschaut habe, hat bei mir viel zur Erhellung Bachs beigetragen. Interessant ist doch das Missverständnis Mendelssohns mit Bach, das daher rührt, weil er nicht mehr mit in diesem mittelalterlichen System der Scholastik vertraut ist, das in den Lateinschulen früher noch gelehrt wurde. Und Mendelssohn kann zum Beispiel mit einer Gambenarie nichts mehr anfangen, weil es das Instrument in seinem Orchester nicht mehr gibt. Erst recht kann er mit vielen Texten nichts anfangen – und genauso wenig können wir es heute. Aber für uns sind es nun eher Denkmäler. Wie die Mona Lisa, die wir uns anschauen, aber nicht verstehen, sondern von ihrer Ausstrahlung bezaubert sind. Ebenso ist das mit Bachs Musik. Ich bin aber der Meinung, wenn wir das auf CD einspielen und damit einem enzyklopädischen Gedanken Rechnung tragen, müssen wir versuchen herauszufinden, was Bach gemeint haben könnte.

Also wäre für Sie ein gut gespieltes Stück Alte Musik …
… ein regelgerecht gespieltes Stück. Regelgerecht im Sinne Bachs. Und ich behaupte nicht, dass ich das perfekt kann, aber ich bin und bleibe auch weiterhin auf der Suche.